Ohne lange Einleitung (das Lesen der ausgewählten Beiträge hat genug Kraft und Selbstbeherrschung gekostet!) eine weitere Runde von Leseempfehlungen, die ich auch und gerade im Zusammenhang mit dem momentanen Aufruhr in Ägypten aussprechen möchte.
Unser Dank wie immer an Ellen Rohlfs für die von ihr übersetzten Artikel und an Peter vom Womblog für die gewohnt pünktliche Frei-Haus-Lieferung.
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Uri Avnery … Der Al-Jazeera-Skandal
Zitat:
Ich dachte immer, dies wäre ein spezifisch israelischer Zug: wann immer ein Skandal nationaler Proportion ausbricht, ignorieren wir die entscheidenden Punkte und lenken unsere Aufmerksamkeit auf zweitrangige Dinge. Dies erspart uns, uns mit den eigentlichen Problemen zu befassen und schmerzliche Entscheidungen zu treffen.
Da gibt es Beispiele in Hülle und Fülle. Das klassische Beispiel konzentriert sich auf die Frage: „Wer gab den Befehl?“ Als bekannt wurde, dass 1954 einem israelischen Spionagering befohlen worden war, in amerikanischen und britischen Institutionen in Ägypten Bomben zu legen, um Bemühungen zu sabotieren, die Beziehungen zwischen dem Westen und Gamal Abd-al Nasser zu verbessern, brach in Israel eine große Krise aus. Fast keiner fragte, ob die Idee als solche weise oder töricht war. Fast keiner fragte, ob es im eigentlichen Interesse Israels war, den neuen und rigorosen ägyptischen Führer herauszufordern, der schnell das Idol der arabischen Welt wurde (und der schon im Geheimen andeutete, dass er mit Israel Frieden schließen könnte.)
Nein, die Frage war nur: Wer hatte den Befehl gegeben? Der Verteidigungsminister Pinhas Lavon oder der Chef der Nachrichtendienste Binjamin Gibli? Die Frage erschütterte die Nation, stürzte die Regierung und veranlasste David Ben Gurion, die Labor-Partei zu verlassen.
Zitat Ende.
Kommentar: Nun, man könnte es sich sehr einfach machen und – berechtigterweise – einfach schreiben, wo er Recht hat, hat er Recht. De facto ist es aber auch im Nahostkonflikt im Endeffekt vor allem die allgegenwärtige Macht der Gegensätze schaffenden und Gemeinsamkeiten nicht zulassenden (Macht-) Dialektik … zumindest auf Seiten der palästinensischen Verantwortlichen in Reihen der Fatah (PLO) und der Hamas. Israel hingegen hat nur sein zionistisches Idealbild und wie das aussieht, beschreibt der Autor vortrefflich. Der gravierendste Unterschied zwischen den Konfliktparteien ist jedoch unzweifelhaft, dass Israel seine menschenverachtende Militärpolitik mit der Zustimmung einer komfortablen Mehrheit der jüdischen Bürger/innen und dank einer weltweit operierenden Propagandalobby fortsetzen und gegebenenfalls sogar noch forcieren kann … und das auch tut, nachweislich ohne Rücksicht darauf zu nehmen, wer da auf der anderen Seite des „Verhandlungstisches“ sitzt. Solange dies der Fall ist, kann auch das palästinensische Volk nichts an der Situation ändern, selbst wenn es seinen zu Lasten der Zivilbevölkerung machtpolitisch widerstreitenden Anführern die Hammelbeine langziehen würde!
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Amira Hass [Haaretz] … Die wirkliche palästinensische Konzession
Zitat:
Die wirkliche Konzession der palästinensischen Führung geht auf Kosten seines besetzten Volkes als einer aktiven Kraft im Kampf für Unabhängigkeit. Dafür sind keine durchgesickerten Dokumente nötig.
Tatsächlich bestätigen die „Palästinensischen Papiere“ ein offenes Geheimnis: im Gegensatz zu den in der Öffentlichkeit gegebenen Erklärungen ist die Führung der PLO und der palästinensischen Behörde bereit, weitreichende Konzessionen zum Heiligen Gral der traditionellen palästinensischen Position zu machen: das Recht auf Rückkehr für die Flüchtlinge der palästinensischen „Nakba“ von 1948. […]
Zitat Ende.
Kommentar: Der Sachverhalt wird vollkommen korrekt dargestellt und auch aufgezeigt, was eine reelle Option für die palästinensische Seite wäre – allerdings bleibt auch hierbei zu bedenken, dass dies ohne einen vernünftigen Argumenten zugänglichen Verhandlungspartner ebenfalls nirgendwo hinführen kann. Deshalb verweise ich zur Verdeutlichung meiner Meinung auf den vorhergehenden Kommentar.
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Amira Hass (Haaretz) … Die Zerstörung palästinensischer Häuser in Zone C hat sich verdreifacht
Zitat:
Die Zahl der durch Israels Zivilverwaltung zerstörten palästinensischen Wohnhäuser in Zone 3 der Westbank – also seit dem Oslo-Abkommen unter voller israelischer Kontrolle – hat sich im Jahr 2010 im Vergleich zu 2009 verdreifacht, wie Daten der Menschenrechtsorganisation B’tselem zeigen.
Der Anwalt Shlomo Lecker, der seit Jahren den Jahalin-Beduinenstamm in der Westbank vertritt, führt dieses vermehrte Zerstören in Zone C direkt auf den verstärkten Druck während der letzten zwei Jahre durch die Siedler und eine neue Organisation, Regavim, zurück […]
Zitat Ende.
Kein Kommentar … siehe unten!
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Dr. David Halpin (Global Research) … Schweigen ist Mittäterschaft
Zitat:
Die absichtliche Verletzung von Gliedern von 23 Jungen mit Hochgeschwindigkeitswaffen ist von Defence for Children International-Palästina (DCI-P) seit März 2010 aufgezeichnet und beschrieben worden. Einige der Fakten wurden in nationalen Zeitungen veröffentlicht. Diese barbarischen Akte widersprechen dem internationalen und dem nationalen Recht – doch gibt es keine juristischen Reaktionen. Die Sozialberufe sehen das physische und psychische Leiden von denen, die leiden. Sie sollten an der Spitze derjenigen stehen, die dazu aufrufen, dass diese Grausamkeit umgehend gestoppt werde. Die politischen Führer haben es versäumt zu handeln. Die Genfer Konvention-Akte 1957, die von zentraler Bedeutung ist, um Kriegsverbrecher in Großbritannien zur Verantwortung zu ziehen, ist entkräftet worden […]
Zitat Ende.
Kommentar: In diesem Fall enthalte ich mich jeglichen Kommentars, weil mir bei solchen Berichten gerade vor dem Hintergrund der arroganten und bigotten Propaganda Israels immer wieder der Hut hochzugehen droht … darüber hinaus liefert der Artikel aber auch alles an wissenswerten Informationen und angemessener Kritik, was unbedingt erforderlich ist, um sich dazu eine fundierte Meinung bilden zu können.
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Weitere Leseempfehlungen:
Prof. Rolf Verleger (Palästina-Portal) … Das ist eine Schande für Israel. Israel, diese sogenannte „einzige Demokratie im Nahen Osten“ kann nur überleben, wenn es in seiner Umgebung undemokratisch zugeht?!
Zitat:
[…] Von Teilnehmern der Stuttgarter Solidaritätskonferenz (November 2010) wurde diese Diskussion mit einer Erklärung zur Ein-Staaten-Lösung forciert, unter die man seinen Namen setzen kann. Ich finde die Argumente für die Ein-Staaten-Lösung gut, und ich finde die Argumente für die Zwei-Staaten-Lösung gut. Und nun?
Ich finde: Unsere Aufgabe ist es, in Deutschland dafür zu sorgen, dass Deutschland und die EU den Israelis klare Grenzen setzt; das wäre ein wesentlicher Faktor auf dem Weg dahin, dass sich die Israelis zu einem grundlegenden Politikwechsel entscheiden müssen. Auf diesem Weg, hier in Deutschland das Klima zu ändern, sind wir schon weit vorangekommen: „Jeder vernünftige Mensch weiß“ – schreibt heute die Süddeutsche Zeitung – dass der grundlegende Politikwechsel in Israel nötig ist (S.1 ihrer Wochenendbeilage, Tomas Avenarius). […]
Zitat Ende.
Kommentar: Es geht in diesem Beitrag von Prof. Verleger zwar „nicht nur“ um die besagte Debatte „Stuttgarter Erklärung“, aber sie stellt aus meiner Sicht dennoch den zentralen Knackpunkt dar. Es liegt definitiv nicht in der Entscheidung von Aktivisten der Palästina-Solidarität, darüber zu befinden, was für das palästinensische Volk gut und richtig – oder eben nicht ist. Das bringt der Autor ebenso treffend auf den Punkt wie auch das, was die vereinigten Kräfte der Aktivisten nun anstreben sollten. Es bleibt natürlich wohl beim Wunschtraum, dass deutsche Aktivisten die „Bunte Regierung“ in Berlin oder gar die Technokraten in Brüssel zu einer dem ausgegebenen Ziel entsprechenden Politik bewegen könnten … aber wenn sie es wenigstens versuchen würden, könnte das bei gleichzeitiger Fortsetzung des internationalen Engagements letztendlich zu einem Druckpotential werden, durch das sich auch die europäischen Akteure zu einem Frieden und Konfliktlösung befördernden Verhalten genötigt sehen. Das ist der einzige Weg, ein vernünftiges Engagement im Sinne der verkündeten Zielsetzungen zu verwirklichen!
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Abraham Melzer … Die zionistische Nulllösung für die Palästinenser und die unsäglichen Berufssühner
Zitat:
Während hierzulande immer noch heftig diskutiert wird über die Einstaatenlösung oder die Zweistaatenlösung, während die Kontrahenten sich gegenseitig Verrat an der heiligen palästinensischen Sache vorwerfen und man dabei ist, daraus einen Glaubenskrieg zu machen, zeigen uns die Betroffenen vor Ort, was sie davon halten. Die Palästinenser wären sogar mit einer Halbstaatenlösung einverstanden, Hauptsache „Lösung“, und die Israelis sind nicht einmal mit der Nullstaatenlösung einverstanden. Für sie wäre es nur akzeptabel, wenn Abbas ihnen mitteilt, dass seine Autonomieregierung beschlossen hat, die Westbank zu räumen. In diesem Fall werden die Israelis einverstanden sein, und um ihre Großherzigkeit und Fairness den Palästinensern und aller Welt zu demonstrieren, würden sie bereit sein, kostenlos den Abtransport zur Allenby-Bridge zu organisieren. Dann hätten sie ihren rein jüdischen Staat. […]
Zitat Ende.
Kommentar: Größtenteils kann ich dem Beitrag nur beipflichten … und wegen meiner stärkeren Bezugnahme auf Gemeinsamkeit vermittelnde Aussagen und Schlussfolgerungen ignoriere ich einige Feinheiten, die ich aus persönlicher Sichtweise zumindest hinterfragen müsste. Da es hier aber rein um den Nahostkonflikt und die unmittelbar betroffenen Menschen geht, haben derartige Dinge hier nichts verloren. Empfehlenswert ist der Artikel in jedem Fall!
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Gegenmeinung … Man zeigt sich „besorgt“
Zitat:
Hungerrevolten in den Hochburgen westlich-arabischer Vasallenstaaten, die in der hiesigen Mainstream als Kampf für mehr „Demokratie“ westlicher Prägung dargeblödelt werden. Einer „Demokratie“, die gerade im Nahen Osten dadurch aufgefallen ist, dass sie sich ihrer kolonialen Unterdrückungsgeschichte immer noch verpflichtet fühlt. Mit der „einzigen Demokratie“ im Nahen Osten als Vorzeigeprojekt, die unter dem Schutz dieser „Demokratien“, Menschen schlachtet, foltert, sie ihrer Heimat und ihres Eigentums beraubt, sie demütigt, rechtlos im eigenen Land macht und gerade dabei ist einen jüdischen Gottesstaat zu errichten. Ein „demokratischer“ Gottesstaat, der sich seine Massaker göttlich absegnen lässt, und so ganz nebenbei sich auch an den Gasfeldern vor der Levanteküste zu schaffen macht. Michel Chossudovsky schrieb am 8.1.2009 in seinem Artikel: „Krieg und Naturgas: die israelische Invasion und Gazas küstennahe Gasfelder“: […]
Zitat Ende.
Kommentar: Der Artikel zeigt unter anderem den untrennbaren kausalen Zusammenhang zwischen den Vorgängen in Nordafrika und dem Nahostkonflikt auf, wobei er berechtigterweise harsche Worte für „westliche Demokratien und Israel“ findet. Lesenswert sind auch wie weiter verweisenden Links!
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Außerdem noch eine Dokumentation des Palästina-Portals mit dem Titel
Kritik an die Israelische Filmtage „Israel im Orient – Orient in Israel“
Die einzelnen Dokumente können auch (ziemlich am Ende) über den aktuellen Beitrag in Adalberts Meckerecke heruntergeladen werden.
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